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Falschaussagen

Falsche Zeug:innenaussagen

Stellen Sie sich vor: Ihr ganzes Leben hängt an den Worten eines Menschen. Ein Satz, eine Erinnerung, eine vermeintliche Beobachtung – und plötzlich entscheidet die Aussage einer:eines Zeug:in über Schuld oder Unschuld. Kaum ein anderes Beweismittel hat so viel Gewicht im Strafverfahren, und kaum ein anderes ist so fehleranfällig.

Studien zeigen, dass falsche Zeug:innenaussagen weltweit eine der häufigsten Ursachen für Fehlurteile sind. In den USA beruhen rund zwei Drittel der erfassten Fehlverurteilungen auf unzutreffenden Aussagen. Auch in Deutschland weisen Untersuchungen auf erhebliche Risiken hin: Mehr als die Hälfte der von der Kriminologischen Zentralstelle untersuchten Fehlurteile hatten fehlerhafte Zeug:innenaussagen als Grundlage.

Unbewusste Falschaussagen

Nicht jede falsche Aussage ist eine bewusste Lüge. Oft entstehen Fehler ohne Absicht, weil Menschen Wahrnehmungen verzerrt speichern oder Erinnerungen ungenau wiedergeben. Drei typische Problemfelder lassen sich unterscheiden:

  • Wahrnehmung: Dunkelheit, Distanz oder die Geschwindigkeit des Geschehens können Beobachtungen verfälschen. Zudem nimmt das menschliche Gehirn Informationen selektiv auf und ergänzt Lücken aus dem eigenen Erfahrungsschatz.
  • Erinnerung: Erinnerungen verblassen, verändern sich oder werden verdrängt.
  • Reproduktion: Nervosität, sprachliche Schwierigkeiten oder suggestive Fragen in der Vernehmung können zu unzutreffenden Darstellungen führen.

Bewusste Falschaussagen

Anders verhält es sich, wenn Zeug:innen wissen, dass sie die Unwahrheit sagen. Solche Aussagen können durch Rache, Angst, ein besonderes Geltungsbedürfnis oder auch den Wunsch entstehen, jemandem „helfen“ zu wollen. Gerade weil die Motivation vielfältig sein kann, sind Gerichte gefordert, Aussagen besonders kritisch zu prüfen.

Aussagepsychologische Gutachten

Ob eine Aussage glaubhaft ist, lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden überprüfen. Aussagepsychologische Gutachten untersuchen, ob die Schilderung auf tatsächlichem Erleben beruht oder ob andere Erklärungen wie Irrtum, Suggestion oder bewusste Täuschung wahrscheinlicher sind.

Der Bundesgerichtshof hat hierfür klare Maßstäbe formuliert (BGHSt 45, 164). Die Aussagepsychologie arbeitet mit der sogenannten Nullhypothese: Zunächst wird davon ausgegangen, dass eine Aussage nicht auf tatsächlichem Erleben beruht. Erst wenn alternative Erklärungen wie Irrtum, Suggestion oder bewusste Täuschung ausgeschlossen werden können, wird die Aussage als glaubhaft eingestuft. Zu den Prüfkriterien gehören etwa logische Konsistenz, Detailreichtum, die Schilderung innerer Erlebnisse und die Konstanz über mehrere Aussagen hinweg.

Grenzen der gerichtlichen Praxis

In der Theorie klingt das überzeugend, in der Praxis wird ein aussagepsychologisches Gutachten aber nur selten eingeholt. Die Rechtsprechung sieht die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage als ureigene Aufgabe des Gerichts (BGHSt 8, 130). Selbst in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, in denen die Entscheidung allein auf den Worten einer Person beruht, wird ein Gutachten meist nicht eingeholt. Ausnahmen gelten nur in besonderen Konstellationen, etwa bei kindlichen oder psychisch auffälligen Zeug:innen.

Falsche Identifikationen

Eine besonders problematische Form falscher Aussagen sind irrtümliche Täter:innen-Identifikationen durch Augenzeug:innen. Obwohl es wissenschaftlich fundierte Empfehlungen gibt, wie man solche Verfahren zuverlässiger gestalten könnte, sind die gesetzlichen Vorgaben bislang minimal. Fehlidentifikationen bleiben daher ein erhebliches Risiko.

Wiederaufnahmegründe

Wenn eine Zeug:innenaussage falsch war, ist die Korrektur des Urteils schwierig. Eine Wiederaufnahme zugunsten des oder der Verurteilten ist nur möglich, wenn die Person wegen einer vorsätzlichen Falschaussage (§ 153 StGB) verurteilt wurde oder wenn neue Beweise hinzukommen, die einen Freispruch oder eine mildere Strafe nahelegen (§ 359 StPO). Dies ist in der Regel schwer zu beweisen.

Verbesserungsbedarf

Besonders problematisch ist, dass Vernehmungen in Deutschland häufig nicht präzise erhoben und dokumentiert werden. Wenn Zeug:innen im Wiederaufnahme nicht erneut aussagen wollen oder können, bleibt nur die Auswertung der Akten. Ohne verlässliche Dokumentation ist eine aussagepsychologische Prüfung jedoch kaum möglich. Eine Reform der Vernehmungspraxis ist daher dringend geboten, um Fehlurteile zu vermeiden.

Literatur/Quellen

  • BGHSt 8, 130.
  • BGHSt 45, 164.
  • BGH, Urt. v. 24.6.1993 – 4 StR 329/93.
  • BGH, Beschl. v. 12.11.1993 – 2 StR 594/93.
  • BGH, Beschl. v. 9.11.2011 – 1 StR 524/11.
  • Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2. Aufl., 2013.
  • Dunkel, Fehlentscheidungen in der Justiz, 2018.
  • Kriminologische Zentralstelle, Studie zu Wiederaufnahmeverfahren.
  • Kühne, NStZ 1985, 252.
  • Nestler, JA 2017, 10.

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