Für evidenzbasierte Reformen und eine wirksame Korrektur von Fehlurteilen
Fehlurteile sind eine Realität unseres Rechtssystems. Ihre genaue Häufigkeit ist unklar, ihre Existenz jedoch unbestreitbar – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen. Gleichzeitig fehlt es in Deutschland bislang an Strukturen, um Fehlurteile systematisch zu erfassen, wissenschaftlich zu untersuchen und nachhaltig zu verhindern.
Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen Reformbedarf auf mehreren Ebenen des Strafverfahrens:
1. Ermittlungsverfahren – Transparenz und Qualität sichern
- Vernehmungen nach internationalen Standards: Die verbindliche Umsetzung der Mendez-Prinzipien kann dazu beitragen, Vernehmungen fair, transparent und überprüfbar zu gestalten.
- Audiovisuelle Dokumentation: Eine verpflichtende Aufzeichnung aller Vernehmungen erleichtert die Arbeit der Ermittlungsbeamt:innen, da nicht mehr parallel protokolliert werden muss. Gleichzeitig reduziert sie spätere Beweisstreitigkeiten und schafft eine verlässliche Grundlage für das Verfahren.
- Stärkung der Hauptverhandlung: Zugleich muss sichergestellt sein, dass audiovisuelle Aufzeichnungen die persönliche Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht ersetzen, sondern ergänzen.
2. Hauptverhandlung – Sorgfalt und Nachvollziehbarkeit stärken
- Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung: Aufzeichnungen können die Grundlage für Rechtsmittel und Wiederaufnahmen verbessern und die Nachvollziehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen erhöhen.
3. Wiederaufnahmeverfahren – Zugang und Effektivität verbessern
- Langfristige Sicherung von Beweismitteln: Asservate und relevante Spuren müssen über Jahre hinweg verfügbar bleiben, um nachträgliche Überprüfungen zu ermöglichen. Eine Widerspruchslösung scheint hier ein probates Mittel zu sein, um nur die benötigten Aservate aufzubewahren.
- Neue Wiederaufnahmegründe: Werden gravierende Aufklärungsdefizite erst nachträglich bekannt, sollte dies einen eigenständigen Wiederaufnahmegrund darstellen.
- Stärkere Einbindung der Staatsanwaltschaft: Bei den Staatsanwaltschaften sollten spezielle Stellen nach dem Vorbild der US-amerikanischen "Conviction Integrity Units" eingerichtet werden, die für die Überprüfung möglicher Fehlurteile und die Vorbereitung von Wiederaufnahmeverfahren zuständig sind.
- Spezialisierte Kammern und Ressourcen: Gerichte brauchen ausreichende Kapazitäten, um Wiederaufnahmeanträge zügig und sorgfältig prüfen zu können.
4. Forschung, Statistik und Lernprozesse
- Systematische Erfassung: Wiederaufnahmeanträge und ihre Ergebnisse sollten bundesweit erfasst werden, um belastbare Daten für Reformen zu schaffen.
- Empirische Forschung: Fehlerquellen müssen noch intensiver wissenschaftlich untersucht werden, um gezielt Verbesserungen zu entwickeln.
- Offene Fehlerkultur: Eine moderne Justiz braucht Strukturen, die dazu führen, dass nicht nur Fehlurteile korrigiert werden, sondern dass aus Fehlern gelernt wird und diese transparent aufgearbeitet werden.