Kontakt
Helfen Sie dabei, Gerechtigkeit zu fördern: Jetzt spenden
Zum Hauptinhalt springen

Der Fall Manfred Genditzki

Mehr als 13 Jahre saß Manfred Genditzki unschuldig in Haft, bevor er 2023 freigesprochen wurde. Der Fall zeigt, wie falsche Gutachten, konstruierte Motive und fehlende Korrekturmechanismen zu einem Felhlurteil führen – und wie schwer es ist, Fehlurteile zu beseitigen.

Veröffentlicht am 8. September 2025
von Isabel Stelter
Manfred Genditzki steht mit vor dem Körper gefalteten Händen neben Regina Rick, die ihre Arme vor dem Körper verschränkt

13 Jahre und 6 Monate unschuldig in Haft

Mehr als 13 Jahre saß Manfred Genditzki unschuldig im Gefängnis, bis er 2023 endgültig freigesprochen wurde. Sein Schicksal verdeutlicht, wie schwer es ist, Fehlurteile zu korrigieren, und wie verheerend die Folgen eines Fehlurteils sein können.

Hintergrund

Manfred Genditzki arbeitete als Hausmeister in einer Wohnanlage am Tegernsee. Dort kümmerte er sich um ältere Bewohner:innen – darunter auch die 87-jährige Lieselotte Kortüm. Am 28. Oktober 2008 begleitete er sie nach einem Klinikaufenthalt zurück in ihre Wohnung. Gegen 15 Uhr verabschiedete er sich.

Etwa drei Stunden später fand eine Pflegerin Frau Kortüm leblos in ihrer Badewanne – vollständig bekleidet. Auffällig war, dass allgemein bekannt war, dass die Seniorin aus Angst vor Stürzen weder badete noch duschte, sondern sich ausschließlich am Waschbecken wusch. Obwohl Genditzki ein Alibi vorlegte – einen Supermarkt-Kassenbon, der belegte, dass er nach 15 Uhr dort einkaufen war – und keine Spuren auf ein Verbrechen hindeuteten, geriet er ins Visier der Ermittler.

Die Obduktion am 29. Oktober 2008 bestätigte zunächst den Tod durch Ertrinken, vermutlich infolge eines Sturzes. Der Bericht stellte ausdrücklich fest: „keine zwingenden Anhaltspunkte für die Mitwirkung fremder Hand“. Doch wenige Wochen später änderte der Rechtsmediziner seine Einschätzung. Nun war von „kräftiger stumpfer Gewalteinwirkung“ die Rede – und der Verdacht gegen Genditzki nahm Fahrt auf.

Konstruktion eines Tatmotivs

Die Staatsanwaltschaft konstruierte zunächst ein Geldmotiv: Genditzki habe Frau Kortüm wegen 8.000 Euro getötet, mit denen er am selben Tag Schulden beglich. Als sich herausstellte, dass er die Herkunft des Geldes belegen konnte und bei Frau Kortüm kein Geld fehlte, wechselte die Staatsanwaltschaft die Theorie.

Nun sollte Eifersucht der Grund gewesen sein. Frau Kortüm habe angeblich heftig reagiert, als Genditzki zu seiner kranken Mutter wollte. Aus diesem Streit sei ein tödlicher Angriff entstanden, den er anschließend mit einem inszenierten „Unfall in der Badewanne“ verschleiern wollte.

Das Verfahren im Überblick

2009 – Verhaftung: Nach dem Tod von Frau Kortüm wird Manfred Genditzki festgenommen.

2010 – Erstes Urteil: Das Landgericht München II verurteilt ihn nach 16 Verhandlungstagen wegen Mordes zu lebenslanger Haft – obwohl weder DNA-Spuren noch Kampf- oder Schleifspuren vorliegen und der Todeszeitpunkt unklar bleibt. Entscheidendes Gewicht erhält ein Gutachten, das später stark kritisiert wird.

2011 – Eingreifen des Bundesgerichtshofs (BGH):  Der BGH hebt das Urteil wegen eines Verfahrensfehlers auf: Das Gericht hatte das Tatmotiv während des laufenden Prozesses geändert, ohne die Verteidigung darüber zu informieren.

2012 – Zweites Urteil: Im erneuten Prozess wird Genditzki erneut zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Verteidigung bringt alternative Erklärungen ins Spiel, etwa einen Sturz in die Badewanne oder einen Schwächeanfall, doch das Gericht folgt diesen nicht. Die Revision scheitert im September 2012.

2018–2020 – Neue Beweise: Eine biomechanische Computersimulation zeigt, dass ein Sturz plausibel ist. Weitere Gutachten, unter anderem zum Todeszeitpunkt und zur Sturzneigung, stützen diese Sichtweise. Dennoch bleibt der erste Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens erfolglos.

2021–2022 – Durchbruch: Das Oberlandesgericht München erklärt den zweiten Wiederaufnahmeantrag für zulässig. Das Landgericht München I ordnet im August 2022 die Wiederaufnahme des Verfahrens an und entlässt Genditzki nach über 13 Jahren Haft.

2023 – Freispruch: Im Juli 2023 endet die Neuverhandlung mit einem Freispruch „wegen erwiesener Unschuld“. Das Gericht spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“ der Justiz.

Der Freispruch 

Am 7. Juli 2023 wird Manfred Genditzki endgültig „wegen erwiesener Unschuld“ freigesprochen. Selbst die Staatsanwaltschaft stellte einen Antrag auf Freispruch. Das Gericht stellte klar fest, dass ein häuslicher Unfall die weitaus plausiblere Erklärung sei und kein Mord stattgefunden habe. Die Vorsitzende Richterin sprach von einer „Kumulation von Fehlleistungen“ seitens der Ermittlungs- und Justizbehörden.

Bedeutung des Falls

Der Fall Genditzki zeigt, wie gefährlich voreilige Festlegungen, widersprüchliche Gutachten und fehlende Selbstkorrekturmechanismen der Justiz sind. Ein einziger Fehltritt kann eine Kette von Fehlentscheidungen auslösen – mit existenziellen Folgen für die Betroffenen.

Dass es mehr als 13 Jahre dauerte, bis ein Unschuldiger rehabilitiert wurde, ist ein Alarmzeichen. Es macht deutlich, wie dringend unabhängige Strukturen gebraucht werden, die Fehlurteile überprüfen und korrigieren können.

Gerichtliche Entscheidungen

  • BGH, Beschl. v. 12.01.2011 – 1 StR 582/10.
  • BGH, Urt. v. 05.09.2012 – 1 StR 272/12.
  • LG München II, Urt. v. 12.05.2010 – 1 Ks 31 Js 40341/08.
  • LG München I, Beschl. v. 02.12.2020 – 1 Ks 121 Js 158369/19.
  • LG München I, Beschl. v. 12.08.2022 – 1 Ks 121 Js 158369/19.
  • LG München I, Urt. v. 07.07.2023 – 1 Ks 121 Js 158369/19.

Fachliteratur

Presseberichte


Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit, Fehler­quellen im Straf­verfahren sowie die Praxis von Wieder­aufnahmeverfahren.