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Fehlurteile in Deutschland – Forschung und Datenlage

Verlässliche Daten zur Häufigkeit von Fehlurteilen in Deutschland fehlen bis heute. Neben der klassischen Studie von Karl Peters gibt es nur wenige empirische Untersuchungen, die Ursachen wie falsche Geständnisse, fehlerhafte Gutachten oder unzuverlässige Zeugenaussagen beleuchten. Internationale Register zeigen, wie wichtig auch hierzulande eine systematische Erfassung wäre.

Veröffentlicht am 4. August 2025
von Isabel Stelter

In Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen zur Häufigkeit von Fehlurteilen. Schätzungen reichen vom Promillebereich bis in den zweistelligen Prozentbereich. Es liegen jedoch einige Aktenanalysen vor, wobei die nach wie vor umfangreichste vom Rechtswissenschaftler Karl Peters stammt. Zwischen 1951 und 1964 führte er eine groß angelegte Studie durch, wobei er 1.115 erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren zugunsten und zuungunsten von Betroffenen im Bereich des damaligen Bundesgebiets untersuchte.


Danach wurde der empirischen Untersuchung von Fehlurteilen in Deutschland über lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in jüngerer Zeit ist das Interesse daran wieder gewachsen. Forschende haben sich verstärkt mit Fehlurteilen und Wiederaufnahmeverfahren befasst und diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln empirisch untersucht: Zum Teil wurden Interviews geführt, andere haben eine Auswertung von Aktenmaterial vorgenommen. Diese Arbeiten stellen eine wichtige Grundlage für die Erschließung einzelner Fehlerquellen dar und sind somit auch für unser Projekt von großer Bedeutung.


Jüngst zu nennen ist das Verbundprojekt des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (unter der Leitung von Bliesener), des Lehrstuhls für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Medienrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (unter der Leitung von Altenhain) sowie der Psychologischen Hochschule Berlin, Professur für Rechtspsychologie (unter der Leitung von Volbert). In diesem wurden 512 erfolgreiche und nicht erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren, sowohl zugunsten als auch zuungunsten von Betroffenen, aus den Jahren 2013 bis 2015 aus 14 Bundesländern qualitativ und quantitativ ausgewertet. Dabei wurden 205 Fehler bei einer rechtskräftigen Entscheidung im Ausgangsverfahren ermittelt.

 

Auch Arnemann arbeitete in ihrer Dissertation, in der es um die Defizite des Wiederaufnahmeverfahrens geht, empirisch. Nach einer ausführlichen Darstellung der rechtlichen Grundlagen des geltenden Wiederaufnahmerechts folgt ein empirischer Teil, der sowohl quantitative als auch qualitative Elemente umfasst: Zum einen wertet sie Bundes- und Länderstatistiken zu in Deutschland eingereichten Wiederaufnahmeanträgen aus, zum anderen führt sie Interviews mit Strafverteidiger:innen. Im Zuge dessen beleuchtet sie die Ursachen von Fehlurteilen sowie Ansätze zu deren Verhinderung und Aufdeckung und endet mit konkreten Reformvorschlägen.

Im selben Jahr veröffentlichte Böhme seine Dissertation, wobei auch er empirisch vorgeht. Er untersucht, ob Fehlurteile in deutschen Strafverfahren unvermeidbare Systemfehler oder vermeidbare Irrtümer sind, und entwickelt Vorschläge zu deren Reduzierung. Auf Basis früherer Studien und Expert:inneninterviews mit Strafrichter:innen an Rechtsmittelgerichten in Baden-Württemberg und beim Bundesgerichtshof, identifiziert er Hauptfehlerquellen wie Personalbeweis, Ermittlungsarbeit, Beweiswürdigung und Zeitdruck, wobei er vor allem mehr Ausbildung, Dokumentation von Vernehmungen und personelle Verstärkung empfiehlt. Auch er fordert eine intensivere Forschung zu Fehlurteilen und eine bessere Zugänglichkeit des Wiederaufnahmeverfahrens, um falsche Urteile effektiver korrigieren zu können. 

Kurz vorher leistet Dunkel mit der Veröffentlichung ihrer Dissertation im Jahre 2018 einen wertvollen empirischen Beitrag zu Wiederaufnahmeverfahren anhand einer explorativen Aktenanalyse. Dabei untersuchte sie 48 erfolgreiche und nicht erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren aus Hamburg im Zeitraum von 2003 bis 2015. Hiervon waren 25 Wiederaufnahmeverfahren zugunsten von Verurteilten erfolgreich und 15 führten zu einem Freispruch.

Die Kriminologische Zentralstelle publizierte seit 2017 in mehreren Veröffentlichungen die Ergebnisse einer von Leuschner teils in Kooperation mit anderen Universitäten und Wissenschaftlern durchgeführten Studie. Sie fokussiert sich vorrangig auf die Rehabilitation und Entschädigung von zu Unrecht inhaftierten Personen. Es wurden 29 Verfahren mit insgesamt 31 Betroffenen untersucht, bei denen es nach einer zwischen 1990 und 2016 verbüßten Freiheitsstrafe und einem erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren in 32 Fällen zu einem Freispruch kam. Es wurden dabei ausschließlich erfolgreiche Wiederaufnahmen zugunsten der Beschuldigten bei eher schwerer Kriminalität erfasst:

Leuschner/Rettenberger/Dessecker, Crime & Delinquency, KrimZ 2019, 687

Leuschner, Justizirrtümer in Deutschland. Ein Überblick über nachweislich zu Unrecht inhaftierte Personen, in: Boers/Schaerff (Hrsg.): Kriminologische Welt in Bewegung, 2018, 497

Dazu ebenso:

Hoffmann/Leuschner, Rehabilitation und Entschädigung nach Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und erfolgreicher Wiederaufnahme, KrimZ 2017

Hoffmann/Leuschner, NK 2016, 155

2024 nahm Diederichs eine umfassende Auswertung empirischer Untersuchungen von Strafgerichtlichen Fehlurteilen und damit den Versuch einer Metaanalyse vor. Sie greift insbesondere drei Studien (Leuscher et al. KrimZ, Dunkel, Fehlentscheidungen in der Justiz, 2018, Altenhain/Bliesener/Volbert, Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren, 2024) auf, die sich auf Aktenanalysen konzentrieren und zeigt dabei auch die Grenzen solcher auf. Diese Studien sind Grundlage der anschließend geführten Diskussion über Ansätze für eine effektive Strafverteidigung. Schließlich fordert sie unter anderen den Ausbau von Unterstützungsangeboten, damit Betroffene überhaupt eine realistische Möglichkeit haben, ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich zu beschreiten.

Der Beitrag von Kölbel, Puschke und Singelnstein gibt einen Überblick über den internationalen Forschungsstand, hinterfragt dessen Übertragbarkeit auf das deutsche Strafprozessrecht und identifiziert bestehende Defizite. Abschließend zeigt der Beitrag auf, welcher juristische und empirische Forschungsbedarf existiert, um Fehlurteilstudien in Deutschland systematisch voranzutreiben.

Püschel liefert 2015 eine historisch fundierte Analyse zentraler Fehlerquellen im deutschen Strafverfahren, dabei verweist er auf die Grundlagenforschung von Alsberg, Hirschberg und Peters. Typische Ursachen, wie unzuverlässige Zeugenaussagen, falsche Geständnisse, Suggestion oder Übererregung der Ermittler werden aufgeführt. Die zentrale Rolle des Ermittlungsverfahrens als Ausgangspunkt systemischer Fehlurteilsrisiken wird betont – und zugleich konstatiert, dass verlässliche Daten zur Prävalenz von Fehlurteilen bis heute fehlen.


Zahlen & Daten

Um verlässliche Erkenntnisse über die Häufigkeit von Fehlurteilen zu gewinnen, bedarf es einer staatlich geführten nationalen Datenbank, die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gibt.

Auf europäischer Ebene wurde jedoch mit einem, wenn auch nicht repräsentativen, Projekt eine erste Grundlage geschaffen: EUREX – European Registry of Exonerations. Diese Datenbank orientiert sich am National Registry of Exonerations in den USA und sammelt Informationen zu bekannten Fällen, in denen unschuldige Personen in Europa entlastet wurden. Langfristig soll sie Aufschluss darüber geben, wie oft Fehlurteile in Europa auftreten, welche Ursachen sie haben und welche Folgen sie für die Betroffenen mit sich bringen. Die Einträge beruhen unter anderem auf Angaben von Verteidigern sowie auf Presseberichten und sind daher nicht vollständig oder repräsentativ. Wir sind Partner von EUREX.

In den USA existiert mit dem National Registry of Exonerations eine umfangreiche und repräsentative Datenbank. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt der Michigan State University College of Law, des Newkirk Center for Science & Society an der University of California – Irvine und der University of Michigan Law School. Neben der Häufigkeit und Verteilung von Fehlurteilen untersucht sie auch deren Ursachen, Kosten und die oft gravierenden Folgen für die Betroffenen.

Ebenso hat das 1992 gegründete Innocence Project New York City, welches sich dafür einsetzt, Unschuldige zu befreien, Fehlurteile zu verhindern und ein gerechtes Justizsystem für alle zu schaffen, eine Abteilung für Datenanalyse und Forschung. Es sammelt und analysiert Daten und führt umfassende Studien zu Themen im Zusammenhang mit Entlastungen durch.  Als erstes Projekt seiner Art gilt es weltweit als wegweisender Vorreiter.

Das Innocence Project ist Gründer und Mitglied des Innocence Networks. Dieses ist ein internationaler Zusammenschluss von über 70 unabhängigen Projekten und Organisationen, die ein ähnliches Ziel verfolgen und dem auch wir angehören. Viele der Mitglieder erheben ebenso Zahlen. Auch das Innocence Project Deutschland ist Mitglied.

Convicting the Innocent ist eine Datenbank, die ausschließlich Fälle von DNA-basierten Entlastungen in den USA erfasst und einmal jährlich aktualisiert wird. Sie verfügt über Suchfunktionen und enthält Auszüge aus Gerichtsprotokollen sowie andere Quelldokumente und Verweise auf gerichtliche Entscheidungen.

 

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit, Fehler­quellen im Straf­verfahren sowie die Praxis von Wieder­aufnahmeverfahren.