Wie läuft ein Wiederaufnahmeverfahren ab?
Ein systematischer Überblick über den Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens zugunsten der:des Verurteilten
Die Anfechtung eines Fehlurteils im Wiederaufnahmeverfahren ist ein langer Weg. Doch wie sieht dieser im Einzelnen aus? Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens zugunsten der:des Verurteilten.
Antragsstellung
Ein Wiederaufnahmeverfahren wird, nur auf Antrag der:des Verurteilten (§ 296 Abs. 1 i.V.m. § 365 StPO) bzw. der Staatsanwaltschaft (§ 296 i.V.m. § 365 StPO) eingeleitet. Die:der Verurteilte kann den Antrag allerdings nicht allein stellen. Hierfür ist entweder ein:e Verteidiger:in erforderlich oder der Antrag ist bei der Geschäftsstelle des Gerichts zu Protokoll zu geben (§ 366 StPO).
Auf Antrag der:des Verurteilten muss das Gericht dieser:diesem ein:e Pflichtverteidiger:in für das Wiederaufnahmeverfahren beiordnen, wenn dessen Mitwirkung wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint (§ 364a StPO). Ebenfalls auf Antrag kann das Gericht eine:n Pflichtverteidiger:in für die Vorbereitung des Wiederaufnahmeantrags beiordnen. In diesem Falle setzt die Beiordnung neben der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage voraus, dass die:der Verurteilte mittellos ist und dass hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Nachforschungen Tatsachen oder Beweismittel hervorbringen werden, die die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags begründen können (vgl. § 364b Abs. 1 StPO).
Additionsverfahren
Der Antrag geht an ein anderes Gericht als das Gericht, gegen dessen Urteil sich der Wiederaufnahmeantrag richtet (§ 367 StPO i.V.m. § 140a GVG). Dieses überprüft im sogenannten Additionsverfahren zunächst, die Zulässigkeit des Antrags. Diese setzt voraus, dass der Antrag in der oben geschilderten Form eingelegt wurde, einen gesetzlichen Wiederaufnahmegrund geltend macht und ein Beweismittel anführt (§ 366 Abs. 1 StPO).
Der Wiederaufnahmegrund muss durch schlüssigen Sachvortrag belegt werden. Es müssen diejenigen tatsächlichen Umstände angeben werden, aus denen sich dieser ergibt. Im Rahmen dieser Schlüssigkeitsprüfung wird die Richtigkeit der behaupteten Tatsachen unterstellt. Ob sie wirklich vorliegen, wird erst an einem späteren Punkt des Verfahrens geprüft. (Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 3. Auflage 2014, Rn. 128). Der Antrag kann auch auf mehrere Wiederaufnahmegründe gestützt werden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.3.1980 – 5 Ws 27/80). In der Praxis kommt dem Vorliegen neuer entlastender Tatsachen oder Beweismittel die größte Bedeutung zu.
Über diesen Tatsachenvortrag hinaus ist erforderlich, dass die:der Antragsteller:in Beweismittel nennt, die diesen stützen (Marxen/Tiemann, a.a.O., Rn. 131).
Ein Fall der Unzulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags ist der sogenannte Verbrauch. Dieser liegt vor, wenn das Antragsvorbringen schon zur Begründung eines früheren Wiederaufnahmeantrags diente, der unanfechtbar aus sachlichen Gründen verworfen worden ist. Der Verbrauch tritt nicht ein, wenn der frühere Antrag allein aus rein formalen Gesichtspunkten als unzulässig verworfen worden ist (Marxen/Tiemann, a.a.O., Rn. 294).
Liegen die Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht vor, verwirft das Gericht den Antrag durch Beschluss als unzulässig (vgl. § 368 Abs. 1 StPO). Andernfalls wird der zulässige Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme zugeschickt (vgl. § 368 Abs. 2 StPO). Anschließend beginnt das sogenannte Probationsverfahren.
Probationsverfahren
Auf die Zulässigkeitsprüfung folgt sich die Prüfung der Begründetheit. Hierzu beauftragt das Gericht eine:n Richter:in mit der Erhebung der Beweise (§ 369 StPO). Nun werden die bisher als wahr unterstellten Behauptungen des Wiederaufnahmeantrags auf ihre Richtigkeit hin überprüft (Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 30. Auflage 2022, § 57 Rn. 15). Neben den von der:dem Antragsteller:in angegebenen Beweisen muss die:der Richter:in von Amts wegen alle zusätzlichen wiederaufnahmerelevanten Tatsachen berücksichtigen (§ 244 Abs. 2 StPO analog; OLG Zweibrücken, GA 1993, 463).
Eine Beweisaufnahme findet aber nur statt, soweit sie erforderlich ist (vgl. § 369 Abs. 1 StPO). Diese kann z.B. entfallen, wenn sich der Wiederaufnahmeantrag auf die Falschaussage von Zeug:innen (Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 2 StPO) stützt, da in diesem Fall ohnehin ein rechtskräftiges Urteil wegen der Falschaussage (§ 153 StGB) der Zeug:innen vorgelegt worden sein dürfte (Schmitt/Köhler, Strafprozessordnung, 68. Auflage 2025, § 369 Rn. 2). In solchen Fällen kann das Gericht über die Zulässigkeit und die Begründetheit des Antrags zusammen entscheiden (OLG Brandenburg, NStZ-RR 2010, 22).
Nach Abschluss der Beweisaufnahme erhalten Staatsanwaltschaft und Verurteilte:r Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 369 Abs. 4 StPO). Das Probationsverfahren endet mit einem Beschluss des Gerichts, mit dem dieses entweder den Wiederaufnahmeantrag als unbegründet verwirft (§ 370 Abs. 1 StPO) oder die Wiederaufnahme des Verfahrens und damit die Erneuerung der Hauptverhandlung anordnet (§ 370 Abs. 2 StPO). Für die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags genügt bereits, dass die Richtigkeit der Wiederaufnahmetatsachen hinreichend wahrscheinlich ist (BVerfG, NStZ 1990, 499 (500); BGHSt 42, 314 (323)). Für den Wiederaufnahmegrund des Vorliegens neuer Tatsachen oder Beweise (§ 359 Nr. 5 StPO) wird jedoch darüberhinausgehend gefordert, dass die Beweisgrundlagen des Urteils so durch diese die erschüttert werden, dass sie das frühere Urteil voraussichtlich nicht mehr zu tragen vermögen und deswegen aufzuheben sind (OLG Hamm, NJW 1962, 68). Mit der Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens verliert das frühere Urteil seine Rechtskraft und darf nicht weiter vollstreckt werden (Roxin/Schünemann a.a.O., § 57 Rn. 16).
Erneute Hauptverhandlung
Die mündliche Hauptverhandlung vor dem Gericht, das die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet hat, ist völlig unabhängig von der ersten. Es wird eine vollständig neue Beweisaufnahme durchgeführt, die sich auf alle Tatsachen und Beweismittel erstreckt, die für die Entscheidung bedeutsam sind. Sie beschränkt sich also nicht auf die in der früheren Hauptverhandlung oder im Probationsverfahren verwendeten Beweismittel. Das Gericht kann die:den Angeklagten verurteilen, freisprechen oder das Verfahren einstellen. Das frühere Urteil darf nicht in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat zum Nachteil der:des Verurteilten geändert werden (§ 373 Abs. 2 StPO). Gegen das Urteil sind die gewöhnlichen Rechtsmittel zulässig (Roxin/Schünemann a.a.O., § 57 Rn. 17).
Unter den Voraussetzungen des § 371 StPO kann das Gericht die:den Antragsteller:in auch ohne Hauptverhandlung freisprechen. Dies ist möglich, wenn die:der Verurteilte verstorben ist oder wenn die Beweislage eindeutig ist und die Staatsanwaltschaft zustimmt.
Fällt die Strafe infolge eines Freispruches oder einer Einstellung fort oder wird diese gemildert, hat die:der Antragsteller:in einen Anspruch auf Entschädigung aus der Staatskasse (§ 1 StrEG).
Zusammenfassung
Das Wiederaufnahmeverfahren ist langer Weg, auf dem es einige Hürden zu überwinden gilt. Meist kommt es gar nicht erst zu einer Hauptverhandlung, da die Anträge als unzulässig oder unbegründet verworfen werden. Im Erfolgsfall stellt die Wiederaufnahme jedoch die Freiheit und Reputation der:des Betroffenen wieder her.